Dunkel schwappen die eiskalten Ostseewellen an die Außenwand der Fähre. Tang und Algen mischen sich in den Schaumkronen, der eiskalte Wind pfeift über das Oberdeck. Langsam umhüllt die Dunkelheit alles, und es beginnt zu schneien. Da ertönt plötzlich ein Schrei…
Nein, das klingt zu gruselig. Tatsächlich muss die Geschichte so losgehen:
An einem strahlend schönen Sommertag in Stockholm legt die vollbesetzte Fähre in Richtung Schären ab. Wir besuchen auf der Insel Sandhamn die erfolgreiche schwedische Krimiautorin Viveca Sten, um sie zu interviewen: Der Mann, beruflich Journalist und im Auftrag einer Zeitschrift unterwegs, die Kinder und ich. Meine Kamera wartet einsatzbereit in meiner Tasche.
Viveca Sten ist auch außerhalb ihres schwedischen Heimat keine Unbekannte mehr. Ihre inzwischen sieben Bücher über Kommissar Thomas Andreasson und seine gute Freundin Nora Linde wurden in viele Sprachen übersetzt. Sechs Titel erschienen davon bisher auf deutsch, die Fangemeinde wartet sehnsüchtig auf mehr. Mein ganz persönlicher Vorteil: Ich spreche Schwedisch und habe dadurch einen Band Vorspung!
Nach der Fahrt durch die Stockholmer Schärenwelt mit ihren über 30.000 Inseln liegt Sandhamn endlich vor uns. Wir haben das Glück, Viveca bereits einmal in Hamburg bei einer Presseveranstaltung ihres deutschen Verlags Kiepenheuer & Witsch getroffen zu haben. Und nach kurzem Umschauen entdecken wir sie auch schon. „Na, dann kommt mit, ich zeige euch meine Insel!“, schlägt die Autorin nach der Begrüßung vor. Entspannt und uneitel ist sie, völlig natürlich und gelassen.
Inselidylle
Der Kommissar in Viveca Stens Krimis, Thomas Andreasson, kommt öfter nach Sandhamn, denn er besitzt ein Sommerhaus auf der Nachbarinsel Harö (das bedeutet übrigens Haseninsel). Als die Leser ihn im ersten Band kennenlernen, erfahren sie von seiner verstorbenen kleinen Tochter und seiner daraufhin gescheiterten Ehe. Ziemlich angeschlagen wirkt er, der zuvor bei der Wasserschutzpolizei arbeitete und die Schären daher wie seine Westentasche kennt. Nun, bei der Polizei von Nacka (einem Vorort von Stockholm), geht es ruhiger zu. Bis er sich dem ersten Mord auf Sandhamn widmen muss…
Während wir am Hafen entlanglaufen, zeigt Viveca uns links den kleinen Einkaufsladen und die Taucherbar. Rechts liegen das Zollhaus und das Värdshus, in dem die Protagonisten oft einkehren. Das Polizeiboot liegt oft hier am Anleger, und auch der Landeplatz für den Hubschrauber befindet sich dort.
Hinter dem idyllischen Café Stringbergsgård (der Dichter war selber mal auf der Insel!) biegen wir hinter Viveca plötzlich links ab und befinden uns mitten in der Inselidylle.
Eng stehen die alten und in bunten Farben gestrichenen Häuser beieinander: viele in typischem Schwedenrot, aber auch gelb, weiß und grün. Kleine Bauerngärten mit leuchtenden Blumen schirmen die Gebäude etwas ab. Unter den Füßen knirscht der Kies. Wir kommen uns vor wie auf Astrid Lindgrens fiktiver Ferieninsel Saltkråkan.
Wir müssten unbedingt in die kleine Inselbäckerei, sagt Viveca. Die weltbesten Zimtkringel wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen und drängeln uns an einer Reisegruppe vorbei. Beim Herausgehen erzählt die Reiseführerin gerade: „Und außerdem lebt die bekannte Krimiautorin Viveca Sten hier auf der Insel!“ Die grinst, winkt und ruft lachend: „Hej hej, das bin ich, hallo!“ – und verschwindet mit uns wieder in den kleinen Gassen, während die Touristen ungläubig hinter uns her schauen.
Ist es nicht brutal, diese Idylle durch brutale Morde zu zerstören? Das erste Buch startet gleich mit einer angeschwemmten Leiche am Strand. Viveca lacht. Gerade dieser Widerspruch reizt sie: die Bilderbuchathmosphäre aufzubrechen und mit der Realität zu konfrontieren. In Wirklichkeit passierte auf der Insel allerdings bisher noch kein Mord, „zum Glück!“.
Künstlerische Freiheit: Orte des Geschehens
Auf dem Mühlenberg, kvarnberget, steht in den Krimis die prächtige Brandsche Villa, das alte und eindrucksvolle Haus von Noras Tante. Wir steigen ein paar Schritte auf die großen und flachen Felsen hinauf. Ein Haus befindet sich hier allerdings nicht – alles Fiktion? Richtig, bestätigt Viveca. Künstlerische Freiheit, denn schließlich wollte sie weder ihr eigenes Haus ins Zentrum ihrer Romane stellen noch das eines Nachbarn.
Der Nachteil: viele Leser suchen nun verzweifelt nach der Brandschen Villa – und finden sie nicht. Ein deutscher Leser, so hatte mir Vivecas Mann kurz zuvor verraten, hatte gerade am Tag zuvor darauf bestanden: Die Villa musste hier irgendwo stehen! Dass er Vivecas Mann war und es also besser wissen musste, verriet der Gatte allerdings lieber nicht, wie er grinsend zugibt.
Denn natürlich legt die Familie Wert auf ihre Privatsphäre und möchte keinen Fanbesuch, so sehr sie Viveca auch ansonsten unterstützen. Seit über 100 Jahren schon besitzt ihre Familie hier auf der Insel Sandhamn ein Haus. Daher ging es in den Ferien immer hinaus in die Schären. Eine der nur knapp 90 dauerhaften Bewohnern Sandhamns ist die Autorin also nicht. Aber auch keine wirklich Fremde.
Wie alles begann
Protagonistin Nora ist ein bisschen das Alter Ego von Viveca Sten – zumindest teilweise. Beide sind Juristin, während Nora bei einer großen Bank arbeitet, tat Viveca dies bis vor einigen Jahren bei der schwedisch-dänischen Post als Chefjuristin. Ein verantwortungsvoller Beruf, der viel Arbeit mit sich brachte. Während einer Phase gesundheitlicher Probleme, in der sich Viveca schonen musste, entstanden die ersten Ideen, einen Krimi über Sandhamn zu schreiben. Denn schreiben und formulieren, das konnte sie – einige Fachbücher hatte sie bereits veröfentlicht. Doch Spaß machte es nicht wirklich, zu trocken waren die juristischen Themen.
Als der erste Krimi fertig war, schickte Viveca das Manuskript hoffnungsvoll an drei Verlage. Kaum zu glauben, aber tatsächlich rief ein Verlag zurück und sagte: „Das ist gut, wir veröffentlichen es!“ Viveca freute sich sehr, aber abends kamen die Zweifel: Wenn nun am nächsten Tag ein weiterer Anruf kam, in dem das Angebot zurückgenommen wurde? Darüber kann sie heute nur lachen – das Buch erschien und wurde ein Erfolg. Auf zehn Bände ist ihre Reihe (vorerst) angelegt, Band acht erscheint in Schweden Anfang November 2015.
Die ersten vier Bücher schrieb Viveca Sten neben ihrer Arbeit. Heute darauf zurückblickend, schüttelt sie den Kopf: „Dass ich das geschafft habe…!“, wundert sie sich. Doch als ihre Bücher erfolgreicher wurden, entschloss sie sich nach langem Überlegen, ihren Job zu kündigen und sich ganz dem Schreiben zuzuwenden. „Ich arbeite nicht weniger als früher“, sagt sie lächelnd. Lesungen in verschiedenen Ländern, Buchmessen, Signierstunden – und Entwürfe und die neuen Bücher wollen ebenfalls geschrieben werden.
Inzwischen sind wir am alten Friedhof der Insel angelangt. Ein friedlicher Ort, von hohen Fichten beschirmt und mit einem alten Eisenzaun umgeben. Oft schlendert Viveca hier entlang und holt sich Inspirationen für die Namen ihrer Protagonisten. Natürlich nutzt sie dafür neue Kombinationen. Besonders in ihrem dritten Band war das nötig: Mit Hilfe von Rückblenden bis über 100 Jahre zurück erzählt die Autorin eine Familiengeschichte, die Auswirkungen bis in die Gegenwart hat. Die alten Namen klingen heutzutage recht ungewöhnlich…
Wenige Minuten entfernt liegt das alte Missionshaus, das heute als Bed & Breakfast dient. Im ersten Krimi wird hier eine Tote gefunden.
Erstaunlicherweise buchen viele Touristen genau dieses Zimmer, weil sie das wohl mit einem extraspannenden Schauer verbinden. „Würde ich nicht machen!“, sagt Viveca und lacht.
Vom Lotsenstützpunkt zur Sommerfrische
Während wir den kleinen Hügel zur Inselkapelle hinaufgehen, berichtet Viveca von der Geschichte Sandhamns. Als Ort der Sommerfrische für die Stockholmer erlangte die Insel zunehmende Beliebtheit, als ab 1865 eine regelmäßige Bootsverbindung von und nach Stockholm eingerichtet wurde. Künstler und Intellektuelle wie Schriftsteller August Strindberg oder Maler Anders Zorn sowie solche, die es sich leisten konnten, bescherten der eigentlich recht armen Inselbevölkerung nicht nur einen Schwung Gäste, sondern auch neue Einnahmequellen: Die wenigen Gästehäuser und Hotels hatten plötzlich viel zu tun, und neue entstanden.
Zuvor hatte Sandhamn eigentlich nur als Lotsenstützpunkt Bedeutung gehabt. Da die Insel recht weit am Rand des Schärengartens liegt, war Sandhamn ein strategisch wichtiger Punkt für die Schifffahrt. Heutzutage kaum vorstellbar – die automatisch gesteuerten und neue, weiter außerhalb liegende Leuchttürme sowie Navigationssysteme übernahmen inzwischen natürlich die Arbeit.
Aber die Beliebtheit der Insel ließ nicht nach. Mehr und mehr Segler kamen, und heute findet man im Sommer kaum Platz am riesigen Anleger. Tausende Gäste strömen dann jeden Tag über die Insel, die meisten verweilen aber nicht lange, sondern segeln bald weiter.
Eine schöne Geschichte ist die der vielen Fichten auf der Insel: Sandhamn bedeutet Sandhafen. Dies ist eigentlich nur der Name des Ortes am Hafen. Hier wurde der Sand der Insel, den es zuhauf gab (und deshalb heißt die Insel eigentlich Sandö, also Sandinsel) als Ballast für Schiffe verladen.
Allerdings versandete die Insel immer mehr, Erosion und der Seewind taten das ihre. So beschloss man, Fichten zu pflanzen. Tausende Setzlinge wurde in Stockholm bestellt und schließlich von den Schulkindern in dreiwöchiger Arbeit auf der ganzen Insel angepflanzt. Wenn man heute durch die von Heidelbeerbüschen durchwachsenen Fichtenwälder spaziert, kann man sich ein karges Sandhamn kaum mehr vorstellen.
Seglertreff und Sommerrückzug
Wir sind im August auf Sandhamn, fast schon im Spätsommer. „Bald wird es noch ruhiger, der September ist fast der schönste Monat„, freut sich die Autorin. Dann ist es noch warm, die Beeren sind reif, aber es wird ruhiger. Wie ist es dann im Hochsommer hier, oder zur Mittsommerfeier? „Laut, sehr laut“, gibt Viveca zu.
Ihr fünftes Buch spielt genau zu dieser Zeit: Jugendliche feiern Mittsommer auf der Insel, trinken zu viel Alkohol, und auch Drogen sind im Spiel. Die Polizei patrulliert und fährt Extraschichten – aber am nächsten Tag findet man in Skärkarlshamn, einem Strand auf der östlichen Inselseite, die Leiche eines 16jährigen Jungen. Kein schönes Thema – aber genau deswegen wird Viveca Stens Krimi auch als Schullektüre gelesen.
Skärkarlshamn wirkt an diesem Tag eher beschaulich. Ein paar Surfschüler üben sich auf dem Brett, Weidenröschen wachsen am Strand und setzen pinke Farbgegensätze zum blauen Meer und dem blauen Himmel. Der Blick geht nach Osten aufs offene Meer. Wenn man hier rausfahren oder schwimmen würde, käme man irgendwann nach Estland. Weitere Inseln gibt es nicht mehr.
Über ein kleines Plateau mit Aussicht auf die Nachbarinsel Korsö bummeln wir zurück zum Hafen. Korsö spielt im vierten Buch eine Rolle: Bis vor einigen Jahren waren hier die schwedischen Küstenjäger stationiert. Noch heute ist die Insel mit dem markanten Turm militärisches Sperrgebiet. Kann man trotzdem dorthin? Zumindest ihre Protagonisten betreten die Insel, um einen Fall zu lösen.
Bekannt, aber nichts Besonderes
Am Hafen erwartet uns eine andere Welt: Große schnittige Boote liegen in der Sonne, leise klingeln und klappern Seile und Schnüre im leichten Wind. Die Menschen bummeln über die Promenade, schauen in die wenigen Geschäfte, essen Eis oder trinken ein Feierabendbier.
Viveca Sten zeigt uns das kleine Inselmuseum, das die Geschichte Sandhamns auf Schautafeln schildert. Auch eine Karte mit Tatorten und Handlungsorten aus ihren Krimis findet sich hier. Ist sie stolz? Schon – aber sehr bescheiden dabei.
Eine junge Frau beobachtet uns und spricht Viveca dann an, sie ist Deutsche, wie sich herausstellt und hat eine Zeit als Aupair in Stockholm gelebt. Natürlich bekommt sie ihr Autogramm.
Auch in der nahen Buchhandlung ähnliche Szenen. Viveca und der Buchhändler, der sichtlich froh ist, eine echte Krimiautorin auf der Insel zu haben, kennen sich. All ihre Bücher liegen dort aus – sogar auf deutsch.
Ein besonderes Buch – und eines, das Viveca sehr am Herzen liegt – ist „Schärensommer“ : Ein Kochbuch mit Rezepten von den Inseln in der Umgebung. Für das Buch traf sie Freunde, aber machte auch neue Bekanntschaften und bat all diese Menschen um ihr Lieblingsrezept aus den Schären. So kamen viele typische Gerichte zusammen, die mit wunderbaren Fotografien und persönlichen Geschichten versehen nun zwischen den Buchdeckeln versammelt sind.
Ganz andere Themen, nämlich die zunehmende Popularität von rechtsgerichteten Parteien und zunehmende Probleme mit Fremdenfeindlichkeit, schneidet Viveca Sten im ihrem sechsten Buch an. Dass die Umfragewerte der Sverigedemokraterna, den „Schwedendemokraten“ zur Zeit fast 20% betragen, lässt mich persönlich angesichts des Bullerbü-Images von Schweden wirklich schlucken. Aber auch in Dänemark ließ sich ja ein Rechtsruck beobachten. Ich hoffe, dass die Menchen auch weiterhin für ein buntes und multikulturelles Land auf die Straße gehen, und das Land die Problematik in den Griff bekommt.
Ein leiser, wehmütiger Abschied
Herzlich verabschieden wir uns nach einem langen und ausführlichen Spaziergang über Sandhamn wieder von Viveca Sten und bummeln noch etwas über die Insel, bevor unsere Fähre ablegt.
Die Abendsonne taucht alles in ein goldenes Licht, das Meer liegt ganz still da und ich merke: Ich bin total verknallt. In diese Insel, diese Landschaft, die Schären und das Meer. Wenn ich jetzt zurück nach Stockholm und dann irgendwann wieder nach Deutschland fahren „muss“, dann ist das ein Abschied – aber auf Zeit. Ich komme wieder.
Disclaimer: Diese Reise nach Sandhamn war rein privat, auch wenn es einen Interview-Auftrag gab. Ich danke an dieser Stelle allerdings gerne dem Verlag Kiepenheuer & Witsch, der uns bereits im Vorfeld in Hamburg zur Presseveranstaltung mit Viveca Sten einlud, den Kontakt mit der Autorin ermöglichte und uns Rezensionsexemplare ihrer Bücher zur Verfügung stellte. Hier gibt es eine Liste der lieferbaren Bücher von Viveca Sten.
Liebste Inga!
Wie aufregend seine Lieblings-Autorin persönlich kennen zu lernen und dann auch noch an so einen Traumhaften Ort bzw. Insel!
Ich bin so doll angetan, das ich mir ihre Bücher gleich mal vornehmen muss!
Vielen Dank für diesen beeindruckenden Artikel!
Beste Grüße,
Kirsten
Hej Inga,
in Schweden sitzend diesen Artikel zu lesen ist einfach herrlich. Ich kann total verstehen, dass du dich in die Insel und das Drumherum verknallt hast. Es ist ja auch sowas von toll hier.
Echt super, dass du noch dazu die Sprache sprichst.
hej då!
Sabine