Hochsensibilität: Herausforderung und kreative Gabe

Hochsensibilität – klingt nach Überempfindlichkeit und für manchen auch nach Krankheit. Ist es gar nicht. Weil mich das Thema zwar schon länger, in letzter Zeit aber immer stärker beschäftigt, heute ein paar Impulse von mir dazu.

Was ist Hochsensibilität?

Menschen nehmen ihre Umwelt wahr und verarbeiten ihre Eindrücke. Manche machen das im Vorbeigehen, andere brauchen etwas länger dazu: Weil ihre Filter mehr Details aufnehmen, mehr Eindrücke verdauen müssen, länger brauchen, bis alles „abgearbeitet“ ist. Diese Menschen nennt man hochsensibel (auch hoch sensitiv; als Abkürzung wird HSP = hochsensible Person benutzt).

Ich bekam vor sechs Jahren auf einmal ein Buch in die Hände, in dem es um Hochsensibilität ging – und hatte das Gefühl, meine Welt kriegt einen Bewusstseinsschub ;-). Warum? Viele meiner Wahrnehmungen erklärten sich plötzlich. Warum schien ich immer empfindlicher zu sein als andere? Brauchte Pausen, wo andere noch feiern gingen. Ich war immer schon stiller als andere, eher zurückgezogen. Das sind introvertierte Menschen ja generell.

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Aber nun las ich, dass HSP länger zum Verarbeiten brauchen – und genau so war es! Ein Gedanken-Wiederkäuen, egal ob nach Treffen mit anderen, einem TV-Film oder anderen Eindrücken: Ich denke noch zwei Tage später darüber nach, wenn andere das Thema schon lange abgehakt haben.

Hochsensibilität äußert sich aber auch noch in ganz anderen Dingen:

  • Geräusch-, Geruchs- oder Geschmacksempfindlichkeit: Zu laut strengt (natürlich) an – aber kann HSP wirklich aus dem Konzept bringen. Dabei ist es egal, ob die knisternde Chipstüte oder die Sirene vom Rettungswagen, dem ständigen und unterschwelligen Lärm einer lauten Straße oder der Kreide auf einer Schultafel.
    Dazu gehören auch Lärmbeschallungen vom Radio oder Fernseher: Mich stören diese Geräusche besonders dann, wenn ich eigentlich etwas anderes mache. Dann kann ich sie schlecht ausblenden und verlasse lieber das Zimmer. Bewusst fernzusehen oder mir Musik anzumachen schätze ich dagegen sehr.
    Viele HSP erzählen davon, dass Kaffee oder bestimmte Medikamente extrem stark bei ihnen wirken. Das habe ich bei mir noch nicht beobachtet. Ich kann dagegen bestimmte Sachen nicht essen, weil ich ihre Konsistenz nicht „vertrage“: Weintrauben, Mandarinen, Kirschen – alles, was innen weich ist und außen eine Hülle hat, passt irgendwie nicht.
  • Wahrnehmung von Stimmungen: Wer einen Raum betritt, schaut, welche anderen Menschen dort sind und nimmt sich vieleicht etwas zu trinken, um dann mit den anderen zu klönen.
    Für HSP bestehen hier evtl. mehrere Hürden: Sie nehmen oft wahr, wie die Stimmung in einer Gruppe ist. Gibt es Probleme, Sorgen und Nöte? Die Luft schwingt ganz anders und beeinflusst HSP. Andere Menschen, auch wenn sie unbekannt sind, stellen daher oft eine Herausforderung dar.
    Ungezwungener Smalltalk erscheint für HSP darher oft belanglos, weil sie ihn als überflüssigen Input bzw. unnötige Konversation ansehen und der Sinn sich nicht erschließt. Ich selber kann ganz schlecht Smalltalk machen: Weder weiß ich, worüber ich reden soll, noch empfinde ich das als anregend. Gruppen mir unbekannter Menschen meide ich am liebsten.
  • Menschenversammlungen: Aus den oben genannten Gründen meiden einige HSP größere Gruppen ganz. Meine Erfahrung ist, dass ich Gruppen, die keine Interaktion von mir erwarten (also keinen Smalltalk), mir nichts ausmachen. Supermärkte, Einkaufsbummel durch die City oder Veranstaltungen funktionieren daher für mich.
    Allerdings suche ich mir auch Ruheinseln, auf die ich mich zurückziehen kann: Ein ruhiges Café, einen Sitzplatz am Rand oder in der Ecke, eine Zeitbegrenzung beim Shoppen. Genervt werde ich, wenn ich das Gefühl habe, Leute stünden mir im Weg rum, die Gespräche am Nachbartisch zu laut sind oder es körperlich zu eng wird (volle U-Bahnen, Konzerte u.ä.).

Das klingt jetzt vielleicht alles dramatischer, als es ist – und natürlich „leiden“ HSP auch nicht die ganze Zeit. Hochsenibel zu sein, soll keine Entschuldigung für mangelndes Selbstvertrauen oder fehlendes Sozialverhalten sein. Und natürlich geht es auch nicht darum, Mitleid erwecken zu wollen.

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Sondern: Verständnis für das Gegenüber zu haben, ist wichtig. Bin ich mit extrovertierten, nicht-hochsensiblen Menschen zusammen, ist mir völlig klar: Nach einem langen Seminartag noch etwas zusammen trinken zu gehen oder zu unternehmen, stellt für sie den perfekten Abschluss dar, lenkt sie vielleicht ab und gibt ihnen neue Impulse. Mich strengt es unglaublich an, und ich könnte den nächsten Tag nicht überstehen. Rückzug ins Private ist hier angesagt. Aber ich weiß das, und ich kann damit umgehen.

Hochsensibel: positive Schlüsse fürs eigene Leben

Und: Es gibt eine Reihe von positiven Schlüssen und tollen Eigenschaften, die HSP aus ihrem sensiblen Filterverhalten ziehen bzw. nutzen können:

  • HSP sind oft sehr kreativ. Ob gestalterisch, musikalisch oder fantasievoll: Ihre Berufe spiegeln meist wider, was sie unbewusst empfinden und wie sie Eindrücke verarbeiten.
    Dazu gehört z.B. auch, dass HSP einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik oder Kunst haben und davon stark angesprochen werden. Malerei, eine Symphonie oder eine beeindruckende Landschaft saugen sie daher in sich auf und schöpfen daraus Kraft.
  • Blick für das Detail: Kleinigkeiten reichen, um die Aufmerksamkeit von HSP zu erregen, denn sie sind gute Beobachter. Ein besonders geformter Baum auf dem Spaziergang, ein Fotomotiv, ansprechende Farbkombinationen oder auch ein Detail in einem Film nehmen HSP eher wahr. „Was du wieder alles siehst!“, ist ein Satz, den ich öfter höre.
  • Reflexion: Weil HSP über Erlebtes viel nachdenken, haben sie meist eine klare Meinung. Als Mitarbeiter leisten sie daher einen wertvollen Beitrag für ein Unternehmen – sie brauchen allerdings auch die Zeit und die Möglichkeit, sich ggf. zurückziehen zu können.
  • Liebe zur Kommunikation: Durch ihre Beobachtungsgabe und ihre kreative Ader verstehen HSP sich auf Ausdruck und Sprache. Am liebsten allerdings schriftlich: per Mail, per Brief, als Schreiberling, Journalist, Blogger oder PR-Fachfrau.
    Telefonieren wiederum schätzen sie weniger: die ungefragte Störung oder das aufgezwungene Gespräch irritieren eher. Soziale Netzwerke sind dagegen genau nach dem Geschmack der HSP. Wenn es nicht zu viel wird und dann wieder zu viele Eindrücke verarbeitet werden müssen.
  • Ruhe bewahren: Dadurch, dass HSP immer viele Dinge verarbeiten, lassen sie sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Meine Kunden freuen sich z.B. über meine gelassene Art und Unaufgeregtheit, auch wenn es vermeintlich Probleme gibt.

Hochsensible Menschen können aus ihrer besonderen Wahrnehmung also viele tolle Eigenschaften mitnehmen und diese im Alltag oder Beruf einsetzen. Das ist nicht immer einfach – und ich bin selber dabei, mir Gedanken dazu zu machen, wie es am besten passiert.

Aber: HSP zu sein, tut nicht weh und ist für mich auch ein Schatz! Wie geht es euch mit diesem Thema?

Hier noch der Link zu einem Artikel, den ich auf meinem schokofisch-Blog bereits vor einiger Zeit zum Thema Hochsensibilität schrieb.

 

3 thoughts on “Hochsensibilität: Herausforderung und kreative Gabe

  1. Hihi – ich finde den Begriff des Gedanken-Wiederkäuers unheimlich treffend.

    Vielen lieben Dank für diesen wundervollen Beitrag!

    Herzliche Grüße,
    Julia (eine extrovertierte Hochsensible)