„Schatz, wir sind schon den sechsten Tag im Urlaub und ich bin immer noch nicht erholt!“, sage ich missgelaunt und weise anklagend auf das heutige Kalenderblatt.
Der Mann blickt von seinem Buch auf – er liest sonst fast nie Romane, nur im Urlaub. Sein bereits sonnengebräuntes Gesicht verzieht sich zu einem freundlichen Grinsen. „Alles gut. Entspann dich. Wir haben noch mehr als die Häfte unseres Urlaubs vor uns!“ Damit vertieft er sich wieder in seine Lektüre.
Ich grummle unzufrieden vor mich hin. Natürlich erwarte ich vom Urlaub, dass er sofort Wirkung zeigt, ist ja klar. Und von mir, sofort abzuschalten, das Leben zu genießen und zu entspannen. Ich will mich erholen! Das klappt aber leider nicht auf Knopfdruck.
Erholungswiderstände
Erste Zweifel werden laut: Hätte es statt der Nordsee doch lieber ein Ferienziel im Ausland sein sollen? Damit wir nicht morgens den gleichen Radiosender hören wie zu Hause und nicht im gleichen Supermarkt einkaufen gehen? Beim Bummeln alles entziffern oder etwas fragen können, statt im Wörterbuch nachzuschauen.
Immerhin haben wir ja Meerblick. Beim Frühstück kommen wir uns vor wie auf einem Ausguck. „Schau mal, wie das jetzt glitzert!“ oder „Die Farben zusammen, wie schön das aussieht!“, werfen wir uns zu. Auch den Fahrplan für die nahe Fähre kennen wir auch schon ganz gut. „Die hat aber Verspätung!“, sagte der Gatte neulich prompt, als um fünf nach noch kein Schiff zu sehen war.
Erholungsfaktoren
Aber am und im Meer stehen wir jeden Tag. Am Wattstrand, am sandigen Südende der Insel, am welligen Nordstrand, am Kliff, am Weststrand. Jeder Abschnitt der Insel sieht anders aus, mutet anders an, riecht anders – und das auch jeweils zu verschiedenen Tageszeiten. Abends noch ein kleiner Spaziergang auf der Promenade? Klar, und hinterher vergleichen wir, wie viele Kilometer wir am Tag gelaufen sind.
Vor zwei Tagen, das gebe ich zu, stand ich allerdings auch fast heulend am Strand. Es war so schön! Ich wollte nie wieder weg. Einfach alles zu genießen, ohne daran zu denken, dass es in einigen Tagen wieder vorbei ist, finde ich ganz schön schwierig. Und ich beschließe, noch einmal ans Wasser zu gehen.
Das Licht heute ist besonders. Das Meer leuchtet graublau, der abendliche Himmel färbt sich goldorange und die Wellen plätschern sanft an den weißen Strand. Austernfischer rennen klagend am Wassersaum entlang, eine Möwe kreist eine Weile über uns, bevor sie weiterzieht, Rhythmisch schlagen die Wellen ans Ufer, langsam, rauschend. Gespannt warte ich, wie weit der nächste Wellenschlag reicht.
Und merke: ich bin ganz da. In der Gegenwart. Denke gar nicht mehr an gestern oder die Pläne für morgen. Sondern gehe nur mit den Wellen mit und freue mich am Dasein.
Vielleicht ist das ja diese Erholung, von der alle reden…?